Da steht der Master also und fordert den Doctor auf, mit ihm auf den zerstörten Planeten Gallifrey zu kommen, wo er ihr zeigen will, was die erschütternde Wahrheit ist, die die Time Lords vollständig verbergen wollten.
Der Doctor zögert, doch sie weiß, dass es nur diesen einen Weg gibt. Und der führt uns zu einem spannenden Staffelfinale und einem Neuanfang für Doctor Who.
Der Weg zur Wahrheit
Der Doctor folgt dem Master durch das Boundary genannte Portal und lässt sich auf die Wahrheitsfindung ein. Währenddessen versuchen ihre Companions und die verbliebenen Menschen die Cybermen aufzuhalten, der einsame und überaus gefährliche Cyberman Ashad hat einen Truppentransporter unter seine Kontrolle gebracht und beginnt seine dortigen Artgenossen wiederzuerwecken – sein Ziel ist die absolute Dominanz der Cybermen und er geht dabei soweit, jede menschliche Komponente der Maschinen-Mischwesen zu beseitigen.
Die Menschen liefern einen guten Kampf, doch am Ende landen alle Beteiligten auf dem Heimatplaneten der Time Lords, wo der Master eine unheilige Allianz mit den Cybermen anstrebt. Time Lord-Körper, ausgestattet mit Regenerationsfähigkeiten im Cyberpanzer. Die unaufhaltsame Waffe.
Denn Gallifrey ist nur noch ein großer Friedhof. Der Master hat die Bevölkerung in seiner Wut umgebracht, nachdem er in der ultimativen Wissensdatenbank der Time Lords namens Matrix (so hieß sie schon lange vor dem Film) auf eine nie gedachte Wahrheit gestoßen war, die bislang verschwiegen wurde.
Diese Erkenntnis ist der größte Einschnitt im Doctor Who-Universum seit dem Wiederbeginn der Serie 2005, als der große Time War den Doctor zum Letzten seiner Art machte.
Das zeitlose Kind (ab hier Spoiler)
Seit Beginn der Staffel wurden gewisse Rätsel in die Geschichten eingestreut, die den Doctor beschäftigt haben. Wer ist das "Timeless Child", von dem der Master gesprochen hatte? Warum gibt es einen weiteren weiblichen Doctor, von dem wir noch nie gehört hatten und was macht sie eigentlich? Warum weiß Jack Harkness in der Zukunft um manche Dinge? Und dann ist da noch die Parallelhandlung aus der vorangegangenen Folge um einen Polizisten in Irland – was ist sein Geheimnis?
Fast alles wird aufgeklärt oder zumindest soweit angerissen, dass man noch viele weitere Geschichten daraus ziehen kann.
Die wichtigste ist, dass der Master herausgefunden hat, dass Tecteun, die erste interstellare Raumfahrerin des Urvolkes von Gallifrey dieses zeitlose Kind allein auf einem Planeten gefunden hat. Es stand bei einem Portal gleich dem, durch das sie nach Gallifrey gelangten. Anscheinend stammte es von der anderen Seite des Portals, einer anderen Dimension, einem anderen Universum – genaueres wurde nicht klar. Die Raumfahrerin nahm sich des Kindes an und entdeckte nach einem scheinbar tödlichen Unfall, dass es über eine besondere Fähigkeit verfügt. Es kann sich regenerieren.
Tecteun war fortan besessen hinter das Geheimnis dieser Fähigkeit zu gelangen. Und sie schaffte es! Sie kann diese genetische Eigenschaft auf sich und ihr Volk übertragen, beschränkt sie aber künstlich auf maximal zwölf Regenerationen.
Das zeitlose Kind hat diese Einschränkung nicht. Es lebt heute noch...
Dieses Kind ist der Doctor!
Wovor rennst du weg?
Das ist die Bombe, die in dieser Episode platzt. Der Doctor ist kein Time Lord, vielmehr ist er/sie ein Opfer einer Wissenschaftlerin, die durch die Regenerationsfähigkeit ihr Volk erst zu den mächtigen Time Lords macht. All der große Fortschritt, die technologische Überlegenheit basiert auf der Lüge, dass sie etwas besonderes sind. Geboren um zu herrschen. Tatsächlich verdanken sie es nur dem Doctor.
Wie viele Leben hat er/sie vorher geführt? Warum erinnert sie sich an ein Leben, wie sie aufwuchs, den Master kennenlernte, zur Akademie ging und schließlich mit einer gestohlenen TARDIS davonrannte – aber nicht an die Inkarnationen davor?
Dann wird klar, dass die Parallelhandlung um den Polizisten eine verborgene Erinnerung an ihr Schicksal war. Ein Weg, dem ganzen einen Sinn zu geben (oder absichtlich platziert?).
Der Doctor war zudem offenbar Teil einer geheimen Abteilung namens "The Divison", die sich aktiv in den Verlauf der Zeit eingemischt hat. Deren Chefin anscheinend eine Inkarnation der Time Lady, der wir in Fugitive of the Judoon begegneten. Und vor der sich der bisher unbekannte Doctor (gespielt von Jo Martin) versteckt hatte.
Der Polizist wurde schließlich von seinen Ausbildern gefunden und sein Gedächtnis brutal gelöscht. Ist dem Doctor das gleiche passiert?
Man merkt schon, dass man bei dieser Zusammenfassung viele Fragezeichen verwenden muss. Produzent Chris Chibnall geht hier einen sehr mutigen, weil riskanten Weg. Er verpasst dem Doctor und der Serie nicht weniger als eine völlig neue Origin-Story und wirft Altbekanntes über Bord.
Oder?
Als zu Beginn der Neuauflage von Doctor Who nach und nach der Time War enthüllt wurde und die Tatsache, dass der Doctor der letzte Verbliebene seiner Art war, setzte das die Serie auf eine neue Basis. Der Doctor hatte nicht nur ein Trauma, sondern es gab ungeklärte Fragen, die erzählerisch neue Möglichkeiten boten.
Tief in diese Möglichkeiten tauchte Chibnalls Vorgänger Steven Moffat ein und setzte dem ganzen mit den letzten beiden Specials des 11. Doctors die Krone auf. Danach war es schwer, einen neuen Ansatz zu finden, der die Mythologie des Doctors in die Geschichten einbindet.
Wobei man argumentieren kann, dass das auch nicht unbedingt notwendig sei. Die Time Lords und die damit zusammenhängenden epischen Stories aus dem Doctor Who-Kanon bieten zwar immer die Möglichkeit für ein tolles Spektakel, aber den Kern dessen, was Doctor Who ausmacht, berühren sie eigentlich nicht.
Eigentlich.
Denn nach 57 Jahren und insgesamt 38 Staffeln entsteht natürlich ein großes Netz an Hintergrundgeschichten, das auch den Reiz der Figur ausmacht.
Das geht bis zurück zum Anfang der Serie. Dort hat es sehr lange gedauert, bis man mehr über den geheimnisvollen Mann erfuhr. Der Doctor war immer ein gewisses Enigma. Wo kam er her? Warum tut er, was er tut? Was treibt ihn an? Der zweite Doctor brachte schließlich die Time Lords in das Serienuniversum und das baute man sukkzessive aus.
Schließlich berührt die Mythologie auch seine stärksten Feinde. Etwa die Daleks, die im Krieg mit den Time Lords sind und vor allem den Master.
Chibnall sah wohl, was auch Moffat an seine Grenzen brachte. Nach so langer Zeit kann man immer wieder nur in bestimmten Beschränkungen dieser Mythologie arbeiten. Es wird schwer, wenn man neues herausstellen möchte, gerade was auch die Back Story des Doctors angeht.
Darum geht er nun einen radikalen Weg und stellt die Mythologie auf den Kopf. Allerdings so, dass dies nicht nur neue Fragen aufwirft, sondern auch einige Antworten liefert, bzw. liefern kann.
Der ganze Charakter des Doctors, seine Fähigkeiten, auf Gefahren schnell zu reagieren, einen Plan parat zu haben, seine kindliche Neugier, sein Gerechtigkeitssinn, seine eigentlich tiefsitzende Verachtung für die Time Lord-Kultur – all das kann man nun besser erklären.
Ganz zu schweigen von seiner Sorglosigkeit vor tödlichen Situationen. – Ja, Regeneration ist möglich, aber man muss sie doch nicht alle verschwenden.
Aber: Er/sie kann es.
Er hat keine Begrenzung (insofern war seinerzeit das "Geschenk" der Time Lords kein neuer Regenerationszyklus, sondern mehr ein Placebo). Dazu bietet er einen Deep Cut für alle Hardcore-Fans. Eine Folge des 4. Doctors wird kurz angerissen, als sich die 13. aus der Matrix befreit (und den 12. bestätigt, dass sein "Zeugnis euch alle zerbrechen würde"). The Brain of Morbius war ein Versuch zu zeigen, dass der Doctors mehr Leben hatte, als bisher bekannt, was aber wieder etwas unter den Teppich gekehrt wurde. Dies ist nun bestätigt.
Neben all diesen Dingen bietet sich nun vor allem die Möglichkeit, auf die ultimative Frage der Serie eine Antwort zu finden: Vor was rennt der Doctor weg?
Ach ja, da waren ja noch Cybermen
Der vorangegangene Abschnitt ist so lang wegen der Implikationen, die diese Enthüllung mit sich bringt – was ist mit dem Rest der Episode?
Die setzt genau da an, wo man die Woche davor aufgehört hat. Die Companions und die letzten Menschen kämpfen mit sehr wenig Ressourcen und viel Einfallsreichtum gegen die Cybermen. Dass die Gefährten des Doctors sich soweit entwickelt haben und dies auch glaubhaft ist, ist ein tolles Zeugnis für die Autoren der vergangenen beiden Staffeln. Das ganze ist action- und spannungsreich und würde auch für eine Episode für sich reichen.
Dazu blicken die Figuren selber auf ihren Werdegang zurück und es kommt zu einem anrührenden Moment zwischen Graham und Yaz. Ryan ist ein bisschen außen vor, aber vielleicht kriegt er ja seinen großen Auftritt in der noch fogenden Spezialfolge.
Gleich zwei sehr gute Bösewichte treten hier auf. Ashad ist zwar sehr furchteinflößend, es zeigt sich aber, dass er gegen den Master wenig Chancen hat. Sacha Dhawan spielt letzteren auf einem neuen Level von Irre. Er erinnert durchaus an Jon Simm, allerdings ohne irgendeine Bremse. Das ist durchaus begründet, da er durch die Erkenntnis über das zeitlose Kind einsehen musste, dass er immer geringer als der Doctor sein wird, was seinen Hass nur umso größer macht.
So läuft es auch am Ende auf ein Duell Master gegen Doctor hinaus. Die Eroberungspläne mithilfe der Cybermen oder Cyber Master sind ihm nur ein Mittel zum Zweck, um den Doctor zu zerstören. Nicht nur körperlich, sondern auch im Innern. Als der Doctor dann in ihrer Verzweiflung mit Ashads Todespartikel alles Leben (inklusive ihres eigenen) auf Gallifrey vernichten will, hat der Master sie da, wo er sie haben will.
Es ist der eigentliche Höhepunkt der Staffel. Der Doctor will sich selber opfern, auch um ihre Entscheidung in Bezug auf Shelley und das Cyberium wieder gutzumachen. Es kommt zu einem großartigen Zweikampf ohne Gewalt, sondern nur mit Worten, der alles beinhaltet, was die Beziehung der beiden ausmacht.
Aber sie kann es dann doch nicht.
An dieser Stelle tritt der alte Widerstandskämpfer Ko Sharmus auf den Plan und bringt den Plan des Doctors zu Ende, aber so, dass sie noch fliehen kann.
Im ersten Moment kam mir das wie ein Deus ex machina vor, ein kleiner Weg, sich aus der Verantwortung zu stehlen, dass der Doctor eine schlimme Entscheidung wie einst im Time War treffen muss. Drück auf den Knopf, töte alle.
Doch tatsächlich ist der wichtige Moment kurz vorher, als der Master triumphierend verkündet, dass er den Doctor zerstört hat – zumindest für einen Moment.
Und es war auch das Werk des Widerstandes, dass nun alle hier sind. Sie hatten das Cyberium in der Zeit zurückgesandt, wo der Doctor es dann fand.
Insofern passte die Lösung dann doch – aber auch wenn es theoretisch ein Sieg ist, so fühlt es sich für den Doctor eher wie eine Niederlage an.
Allerdings hat sie auch keine Zeit, länger darüber zu sinnieren. Kaum wieder in ihrer TARDIS erscheinen die Judoon und beamen sie in ein Hochsicherheitsgefängnis...
Nach der Revolution ist vor der Revolution
Die Geschichte wird in der Folge Revolution of the Daleks fortgesetzt, die an Weihnachten oder Neujahr gesendet wird. Das heißt, dass auch diese klassischen Gegner in dieser Staffel auch noch eine Rolle spielen werden. Und vielleicht sehen wir dann noch einmal Jack Harkness? Wollte es nur mal gesagt haben.
Wenn man ein Fazit dieser Staffel ziehen will, dann dass es eine deutliche Verschiebung beim Schwerpunkt gegeben hat. Wie schon in vorigen Rezensionen angemerkt, standen Action und Spannung ganz vorne. Dramatische Geschichten mit einem persönlichen Bezug auf die Hauptcharaktere gab es diesmal nur spärlich und betrafen hauptsächlich den Doctor.
Im Grunde ist diese zwölfte der erzählerische Gegenentwurf zur elften, was auch in einem gewissen Sinne notwendig war. So interessant deren Episoden teilweise waren, so gab es doch Stimmen, denen der Abenteuer-Charakter von Doctor Who zu kurz kam.
Das holt man hier gewissermaßen nach.
Auch bekamen die Companions vorher wenig zum Hintergrund des Doctors erklärt, sie blieb ihnen in gewisser Weise ein Rätsel. Hier erfahren sie endlich mehr. Trotz all der Schweigsamkeit des Doctors konnten sie ihr Vertrauen und ihre Freundschaft gewinnen – was auch wieder an die Anfänge der Serie selber erinnerte.
Mit der Enthüllung über die wahre Natur des Doctors wird dieser Aspekt noch weiter unterstrichen. Wir wissen wieder wenig über ihre Herkunft, über ihr wahres Volk und ihre Grundmotivation. Das ist auch ein erzählerischer Befreiungsschlag, der zunächst nichts am Doctor selber ändert, ihr Charakter ist schließlich immer noch derselbe, aber es bringt viele neue und interessante Möglichkeiten mit der Mythologie umzugehen.
Gerade, was die Geschichte um die "Division" angeht, die aus der Matrix gelöscht wurde. Ein neuer Brunnen, aus dem man schöpfen kann, ohne den Kern der Serie selbst zu verändern.
Und dieser Kern wird insbesondere in der zwölften Staffel stark hervorgehoben. Spannende Abenteuer, bei denen innerhalb einer Folge Vollgas gegeben wird, mit gutem Humor, mit tollen, kompetenten Companions und einem Doctor, die volles Vertrauen zu sich hat.
Nun könnte man die Ansätze von Staffel elf und zwölf in der kommenden kombinieren und starke Abenteuer mit persönlichem Bezug (auch innerhalb der TARDIS Fam) präsentieren, während man außerdem Rätsel aus der Vergangenheit des Doctors nachgehen kann.
Wenn all das gelingt, können wir uns auf eine sehr, sehr starke Zukunft von Doctor Who freuen.
Ach ja, und bitte auch mit Jack Harkness! Wie oft muss man das noch sagen...?
Fotos: © 2020 BBC