Superhelden werden im Labor hergestellt, durch Maschinen ermöglicht, durch Unfälle mutiert oder erscheinen uns übermächtig dank überlegener Alien-Technologie.
Im Marvel Cinematic Universe versucht man immer, eine rationale Erklärung für Superhelden zu geben. Nun stößt man in andere Bereiche vor und bringt Magie in das MCU – und das auch noch in einem Origins-Film. Kann das überzeugen? Und wie schlägt sich Benedict Cumberbatch?
"Vergiss alles, was du zu wissen glaubtest!"
Dr. Stephen Strange ist ein brillanter, aber arroganter Neurochirug, der scheinbar "Magisches" mit seinen Händen vollbringt. Sprich: sein fachliches Können übersteigt das seiner Kollegen bei weitem. Das brachte ihm Reichtum und Ruhm ein. Doch all das ist jäh vorbei, als bei einem Autounfall seine Hände schwer verletzt werden und er nicht mehr arbeiten kann. Verzweifelt unterzieht er sich mehreren, erfolglosen OPs, bis er schließlich von einem seltsamen Ort in Nepal hört, wo einem querschnittsgelähmten Patienten das Laufen wieder ermöglicht wurde.
Strange reist dorthin und trifft auf etwas, was er nie erwartet hätte. Eine Gemeinschaft von Magiern, die die Erde seit Jahrtausenden vor interdimensionalen Bedrohungen schützen. Doch ein Feind aus dem Innern scheint plötzlich zu stark für sie zu sein. Doctor Strange muss zum Superhelden werden, um die Erde zu retten.
Ein Schritt zurück, ein Sprung nach vorn
Origin-Stories haben immer den Nachteil, dass sie eine spannende Geschichte erzählen müssen, so dass es weitere Filme geben kann; gleichzeitig muss man aber erst die Hauptfigur einführen, bevor man zur eigentlichen Story kommt. Es gibt dafür gute und schlechte Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit.
Marvel hat im Laufe der Jahre (und nach einem sehr guten Start mit "Iron Man") viel dazugelernt, was sich in diesem Fall sehr bemerkbar macht. Wenn man schon als erstes die Figuren und ihre Welt etablieren muss, so sollte man dies auf interessante Weise tun und nicht nur bestimmte Punkte aus der Comicvorlage abhaken, bevor man zum großen Kampf kommt.
So ist die gute erste Hälfte des Films die Geschichte eines verzweifelten Mannes auf der Suche nach dem, was er einst hatte. Eigentlich ein Charakterstück, das mit Benedict Cumberbatch genau richtig besetzt ist.
Comicfigur hin oder her, der Weg von Strange vom distanzierten Arschloch zum sympathischen Helden wider Willen wird so erzählt, dass man mehr am Charakter interessiert ist als an der tatsächlichen Lösung der Bedrohung. Dies ist zu weiten Teilen auch Cumberbatch zu verdanken, der diesen Film von vorne bis hinten trägt und die Wandlung von Strange so mitreißend verkörpert, wie man es seit Robert Downey, jr. im ersten "Iron Man" nicht mehr gesehen hat. Ich freue mich jetzt schon darauf, die beiden in einem Film aufeinandertreffen zu sehen.
Größter Kritikpunkt an den Marvelfilmen war bis auf wenige Ausnahmen (Loki und... Loki) die Darstellung der Bösewichte. Nominell ist zwar hier Mads Mikkelsen als Kaecilius der Gegner, aber natürlich steckt noch mehr dahinter, so viel kann schon ohne Spoiler verraten werden.
Mikkelsen spielt angenehm unaufgeregt, ohne besondere pathetische Ausfälle. Er hat ein Ziel und glaubt, richtig zu handeln. Tatsächlich ist das Böse in diesem Film nicht so einfach definiert und alle Figuren, allen voran Strange, haben mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen. Das fügt sich gut mit der ersten Hälfte zusammen, vor allem weil keine definitive Auflösung, sondern Raum für mehr gegeben wird (Fortsetzung!).
Die Nebenrollen werden bei Marvel immer prominenter besetzt, irgendwie scheint es kaum noch Schauspieler von der A-Liste zu geben, die nicht bei Marvel unter Vertrag stehen. Tilda Swinton kann genauso überzeugen wie Chiwetel Ejiofor. Dass The Ancient One (im deutschen "die Älteste") kein asiatischer Mann, sondern eine europäische Frau ist, mag Puristen zum Schmähen bringen. Als Anführerin einer globalen Geheimgesellschaft (in der alle Nationen und Ethnien vertreten sind) kommt sie sehr gut rüber und kann auch intensive Actionszenen handhaben. Sie wirkt dreidimensionaler, als es diese eigentlich schon klischeehafte Rolle vermuten lässt. Ejiofor sticht dabei nicht ganz so heraus, das Duo Cumberbatch/Swinton hat dann doch die Überhand.
Rachel McAdams hat zwar nicht allzu viel zu tun, geht aber auch nicht unter. Sie ist Stranges Verbindung zur normalen Welt und ist – Gott sei Dank – zu keinem Zeitpunkt die Jungfrau in Nöten.
Der Exorzismus des Stephen Strange
Während man bei den Darstellern auf bekannte und auch immer mehr hochdekorierte Namen setzt (Cate Blanchett wird z.B. im kommenden "Thor: Ragnarök" dabei sein), geht Marvel bei den Regisseuren den umgekehrten Weg und lässt zum einen talentierte, aber bislang wenig profilierte Personen ran oder bietet "genrefremden" Regisseuren eine Chance.
Scott Derrickson machte sich als Horror-Regisseur einen Namen und die Frage war nun, inwieweit das Einfluss haben würde. Nun, wer ein Jumpscare-Festival erwartet, der wird – zurecht und natürlich – enttäuscht. Stattdessen zeigt sich, dass Schubladendenken völlig fehl am Platze ist. Wo Sitcom-Regisseure intelligente Actionknaller wie die letzten beiden Captain America-Teile hervorbringen, zeigt der Horror-Fachmann seine große Vorstellungskraft und liefert visuell frische und aufregende Ideen, um die Macht der Magier umzusetzen.
Wer nach dem Trailer ein "Inception"-Imitat anprangerte, der muss zugeben, dass "Doctor Strange" nicht nur Inception auf Steroiden ist. Nein, das ist Ivan Drago-Niveau! Die Welt wird hier derart gebogen, zerbrochen und kaleidoskopiert, dass sich 3D mal richtig lohnt.
Dabei kommt marveltypisch auch der Humor nicht zu kurz. Die recht schwerfälligen Themen Magie, Geheimgesellschaften und im weitesten Sinne Zauberlehrling sind angenehm unprätentiös umgesetzt. Die Magie ist Mittel zum Zweck und verträgt auch die nötige Portion Selbstironie.
Derrickson erfüllt so die Erwartungen und weiß sie gleichzeitig zu unterlaufen. Besonders deutlich wird dies beim Finale, das mit einer überraschenden und eleganten Auflösung aufwartet. Und als kleine Randnotiz: die zurecht gescholtene Musik bei Marvelfilmen weiß in diesem Fall zu überzeugen, tatsächlich hat Michael Giacchino sogar ein Thema geschrieben, das man nach dem Film noch mitsummt. Es wurde auch Zeit!
Fazit
Insgesamt ist die Handlung natürlich nicht besonders originell. Zusammengefasst erinnert sie an viele andere Superhelden-Origins (allen voran der letztjährige "Ant Man"). Allerdings ist die Geschichte darum, inbesondere die Figur Doctor Stephen Strange, interessant und unterhaltsam gestaltet und macht Lust auf mehr – auch und gerade weil die Entwicklung des Helden noch nicht abgeschlossen ist. Mit Doctor Strange hat man einen weiteren wichtigen Marvel-Charakter auf befriedigende Weise vorgestellt, der sicher viele neue Fans gewinnen wird.
Ach ja: natürlich lohnt es sich, bis zum Ende des Abspanns sitzenzubleiben.