Ein Film basierend auf wahren Erlebnissen und einer erfundenen Geschichte. Mit Hauptdarstellern, die noch keiner kannte, mit Stars von heute als Stars von damals (mit neuen Namen) und Nebendarstellern, die sich selbst in einer fiktiven Version spielen...
Paul Thomas Anderson zeigt, warum er die Geheimwaffe des Gegenwartskinos ist. Und worum geht's? Um die Liebe natürlich.
It's a godawful small affair...
Es ist 1973.
Gary Valentine ist 15 Jahre alt. Das sieht man ihm äußerlich an. Er verhält sich allerdings, als ob er schon einige Jahre älter wäre. Er ist charmant, fast schon weltgewandt, hat eine unglaubliche Energie und ist immer auf der Suche nach der nächsten Gelegenheit, Kohle zu machen. Dabei müsste er nur seine Karten richtig ausspielen. Denn Gary ist Schauspieler, der es in einige Top-Produktionen geschafft hat. Aber damit ist bald Schluss.
Warum? Weil er eine Frau beeindrucken will...
Diese Frau ist Alana Kane. Sie ist 25 Jahre alt. Das sieht man ihr äußerlich auch an. Nur scheint sie irgendwo zwischen einem Teenager und einer jungen Erwachsenen steckengeblieben zu sein. Sie verhält sich eher nicht ihrem Alter entsprechend. Sie hat einen undankbaren Job als Assistentin eines grabschenden Fotografen, lebt auch noch zu Hause (vermutlich weil sie nicht verheiratet ist und sich auch keine eigene Wohnung leisten kann). Ihre Familie erdrückt sie und behandelt sie auch noch, als sei sie 15 Jahre alt.
Beim großen Schulfoto-Tag an einer High School begegnen sich die beiden. Gary ist sofort von ihr angetan, sie ist noch sehr zurückhaltend, wird aber schnell von seiner Energie angesteckt. Sie lässt sich von ihm bequatschen, seine erwachsene Begleitperson für bestimmte Auftritte zu sein. Daraus entwickelt sich eine Freundschaft und eine Geschäftsbeziehung.
Sie bauen einen Handel mit Wasserbetten auf, er führt sie ins Showbusiness ein und zwischen den beiden entwickelt sich eine explosive Mischung von Zuneigung und harten Auseinandersetzungen, die vor allem auf dem Altersunterschied und ihren verschiedenen Lebenszielen beruhen.
Wir folgen den beiden durch ein Jahr in den frühen 70ern von Hollywood. Erlebnis reiht sich an Erlebnis und was diese verbindet, ist die Frage, ob die beiden denn auch zusammenkommen werden.
Sailors fighting in the dance hall
Paul Thomas Anderson weiß, wie man reale Ereignsse mit einer eigenen Geschichte und Charakteren so verweben kann, dass man meint, man sähe eine Biographie von echten Personen und nicht eine Mischung aus Fiktion und Fakten.
Das war in Boogie Nights so, in There Will Be Blood und in The Master. Licorice Pizza basiert zu einem großen Teil auf den Jugenderinnerungen von Gary Goetz. Der heutige Film- und TV-Produzent war ein Kinderdarsteller wie die Hauptfigur Gary Valentine und im Grunde das, was die Amerikaner einen "Hustler" nennen.
Jemand, der sich ins Zeug legt, um bei jeder Gelegenheit Geld zu verdienen. Keine Idee ist zu abwegig, keine Herausforderung existiert, die sich mit der richtigen Herangehensweise meistern lässt.
Das hauptsächliche fiktive Element ist die weibliche Hauptfigur Alana Kane, die mit der Darstellerin Alana Haim im Hinterkopf geschrieben wurde.
Sie hatte keine vorherige Schauspielerfahrung, vielmehr ist sie Mitglieder der Band "Haim", wo sie mit ihren beiden Schwestern zusammen spielt. Paul Thomas Anderson hat mehrere Musikvideos der Band inszeniert.
Der Dienstweg war also ein kurzer und weil man schon dabei war, wurden besagte Schwestern als Kane-Schwestern engagiert und die Eltern der drei gleich mit.
Familiäre Connections bestehen auch zu Gary-Darsteller Cooper Hoffman. Er ist der Sohn von Philip Seymour Hoffman. Die 2014 verstorbene Schauspiel-Legende war in vielen Filmen von Anderson zu bestaunen – keine Rolle war wie die andere und in jeder war er brilliant. Offensichtlich ist Talent vererbbar – dazu unten mehr.
Um diesen Kern herum schwirren (zum Teil fiktionalisierte) Personen der Zeitgeschichte aus dem Kosmos von L.A. und Hollywood der 70er Jahre.
Ein heimlich schwuler Bürgermeister-Kandidat, eine mehr als unangenehme Agentin, ein so fassungslos machender rassistischer Restaurantbesitzer, das man an der Stelle nur lachen kann (auch wenn das wieder mal eine Aktivistengruppe mit Gaslighting-Methoden nutzte, um sich mit Boykott-Aufrufen Aufmerksamkeit zu verschaffen – allerdings ohne Erfolg), Lucy Dolittle alias Lucille Ball, der alternde Jack Holden alias William Holden, der bekloppte Regisseur Rex Blau alias Mark Robson und natürlich Jon Peters - ohne alias, sondern einfach nur Jon Peters.
Ein Mann, der sich von Barbra Streisands Friseur zum Hollywood-Produzenten (u.a. Tim Burtons Batman) hochgearbeitet hat und nach vielen bekannten Berichten noch nie alle Latten am Zaun hatte. Das darf man hier auf herrlichste Weise bestaunen.
Bradley Cooper brilliert in dieser kurzen, aber sehr einprägsamen Rolle und auch Sean Penn als Holden weiß sich gut in Szene zu setzen.
Ein solch großartiges Nebenfiguren-Kabinett ist die Spezialität von Anderson. Dabei macht er nicht den Fehler, einer diesen Figuren mehr Raum zu geben als notwendig. Sie alle dienen nur dem roten Faden der Geschichte und bringen Alana und Gary entweder näher zusammen oder treiben sie ein Stück weit voneinander weg.
Oh man, wonder if he'll ever know
Alana Haim stemmt ihre erste Filmrolle mit Bravour. Sie übertreibt nicht und und kommt so nicht als neurotische, aber liebenswerte Rom-Com-Prinzessin daher. Ihre Alana Kane ist ein normaler Mensch, die mit sich selber, ihrer Familie und ihrer (nicht vorhandenen) Karriere hadert.
Sie ist unglaublich kompetent und vielseitig, steht aber eben auch alleine da, was sie zugleich zornig aber auch hilfsbedürftig macht.
Ihr Gegengewicht ist der immer optimistische Gary. Auch er ist kein typischer romantischer Held. Kein geschniegelter Möchtegern-Teenie, der von einem Endzwanziger gespielt wird, sondern ein leicht übergewichtiger, linkischer junger Mann, mit unreiner Haut und dem Schalk im Nacken.
Aber natürlich auch sehr unerfahren und unsicher in Liebesdingen. Dank seiner Persönlichkeit kann er das gut überspielen. Allerdings sieht Alana durch diese Teilfassade ohne Probleme hindurch.
Cooper Hoffman ist eine echte Entdeckung. Er hat diese Rolle mit 17 Jahren gespielt und hat eine Leinwandpräsenz, die locker mit den Altstars des Films mithalten kann. Hier fiel der Apfel wirklich nicht weit vom Stamm und man darf nur hoffen, dass Hoffman uns weiter im Kino begeistern darf.
Diese Echtheit der beiden Hauptdarsteller ist es auch, was den ganzen Film trägt. Es ist weder eine typische Love-Story, noch sind hier Supermodels gecastet worden. Es sind Menschen wie du und ich, die einige ziemlich absurde Situationen erleben (was vermutlich diejenigen sind, die auf wahren Begebenheiten beruhen) und den Zuschauer lange in der Schwebe lassen, ob ihre Zuneigung zueinander auch für das große Happy End reicht.
Is there life on Mars?
Anderson knüpft mit Licorice Pizza an den Stil der Gangster-Epen von Martin Scorsese an (und das nicht nur wegen seiner langen Kamerafahrten, die kennen wir ja schon).
Wie Goodfellas und Casino gibt es an sich wenig Handlung, dafür sehr viel Geschichte. Das wirkt allerdings nie beliebig, sondern jeder einzelne Episode ist für sich interessant und hat ihre eigenen komischen und tragischen Highlights.
All das ist eingebettet in das Jahr 1973, in das wir mit absoluter Leichtfertigkeit entführt werden. Alles wirkt wie zu dieser Zeit gedreht.
Wer allerdings einen Nostalgie-Trip erwartet, wird schnell eines besseren belehrt. Es ist die Zeit der Ölkrise; Sexismus, Rassismus und Homophobie sind allgegenwärtig und obwohl man sich in einer scheinbar sexuell lockeren Gesellschaftsphase befindet, ist von echter Zuneigung wenig zu spüren.
Das alles wird aber einem nicht vorproblematisiert, sondern die Figuren leben einfach damit und versuchen das beste daraus zu machen. Niemand hält eine große Rede über die Welt und die Gesellschaft, sondern es gibt Frust und Rückschläge, aber die Charaktere lassen keinen Zweifel daran, dass sie trotzdem im Leben weiterkommen wollen.
Ein Motiv, was immer wieder auftaucht, ist, wie Alana und Gary rennen. Sie rennen weg, sie rennen zur Hilfe, sie rennen voreinander davon und aufeinander zu. Sie haben es eilig, aber noch keine richtige Wegbeschreibung.
Das fasst den Film auch gut zusammen. Wir sehen sympathische und lebensechte Charaktere, die einen mit zurücknehmen in eine Welt, die genau so absurd ist wie unsere heute, nur eben auf ihre eigene Art und Weise.
Sie sind von Unruhe getrieben, beide fühlen sich unvollständig und wissen aber nicht, ob ihr Gegenüber wirklich das fehlende Stück ist, was ihrem Leben fehlt.
Lakritze und Pizza – passt das zusammen?
Im Kern ist es immer eine Junge-trifft-Mädchen-Geschichte, die durch ihre Darsteller, durch eine meisterhafte Regie und ein Drehbuch begeistert, aus dem jeder mindestens eine Lieblingsszene mitnehmen kann.
Eine echte Empfehlung.