Dieses Werk ist Weltliteratur, um es gleich vorwegzunehmen. Cross-Cult hat nach der Hardcover- nun auch vor kurzem die Paperback-Ausgabe auf den Markt gebracht. Diese ist um einiges erschwinglicher, so dass nun hoffentlich viel mehr Menschen die Möglichkeit haben, diesen grafischen Roman in ihre Sammlung aufzunehmen. Und sei es nur der einzige Comic, den sie besitzen.
„Graphic Novel“ ist auf dem Comic-Markt ein arg überstrapazierter Begriff. Er soll Qualität suggerieren, ein umfangreiches Werk beschreiben, das aber trotzdem ein Ende hat. Wer nicht Fan einer Serie ist, kann hier glücklich werden und muss vielleicht nicht die - zumindest früher - schambehaftete Bezeichnung „Comic-Leser“ für sich führen.
Oft sind Graphic Novel heutzutage aber nur verklärte Sonderausgaben, zusammengefasst in einen Band und auch in der inhaltlichen Qualität nicht immer überzeugend.
„From Hell“ hingegen verdient die Bezeichnung „Grafischer Roman“ mit all seinen gewünschten Assoziationen voll und ganz. Hier wird man auf fast 600 Seiten in nicht weniger als die Abgründe der menschlichen Geschichte, Gesellschaft und Seele geführt.
„From Hell“ ist eine Aufarbeitung der „Jack The Ripper“-Morde. Es ist kein Whodunit (wie etwa die Verfilmung mit Johnny Depp, die die Vorlage ausweidet wie Jack seine Opfer) und auch nicht eine Geschichte aus der Sicht eines einzigen Beteiligten.
Es ist die Geschichte aller beteiligten Opfer, deren nahestehenden Menschen, der Polizisten, des einen Täters, seiner Helfer, seiner Auftraggeber, Beschützer und Richter.
„From Hell“ arbeitet die Morde auf und meint doch jeden Mord und was er aus der Gesellschaft macht, wie Autor Alan Moore einmal anmerkt.
Die Geschichte lässt auch nicht offen, wer es denn gewesen sein könnte. Wer wie in der Verfilmung einer Mördersuche im viktorianisch-Sherlock-Holmesschen Genre erwartet, wird das genaue Gegenteil vorfinden.
Alan Moore präsentiert zum einen seine Lösung des Falles, die er, sehr ausführlich im Anhang erklärt, auf verschiedene Arbeiten von Sachautoren stützt (hauptsächlich aber auf „Jack the Ripper: The Final Solution"). Der „wahre“ Jack The Ripper wird uns in aller Deutlichkeit vorgestellt, sein Werdegang, sein Denken präsentiert.
Doch dies ist nur die Oberfläche. Denn viktorianisch ist die Geschichte tatsächlich durch und durch. Allerdings nicht im Sinne nostalgischer Erhöhung einer „guten alten Zeit“. „From Hell“ führt uns zwischen den extremen Polen der High Society und der untersten Gesellschaftsschicht entlang. Vom Buckingham Palast nach Whitechapel.
„In Whitechapel gibt’s so was wie die Gesellschaft nicht. Es ist anders. Man kann die Leute dort nicht kontrollieren. Wie soll man jemandem drohen, der mit dem Schlimmsten leben muss?“ Frederick Abberline
Sie berühren sich an einer Stelle und von da an bricht sich die Hölle Bahn. Alan Moore zeichnet ein Bild einer Gesellschaft, in der alles, was Unwohlsein verursacht, weggeschoben, verdrängt und unter den Teppich gekehrt wird.
Königin Victoria lässt ihre Probleme „beseitigen“, um weiter so tun zu können, als gäbe es sie nicht. Die Prostituierten ertränken ihre seelischen Schmerzen schon morgens im Pub. Das mickrige Geld der Freier reicht nicht für die Miete. Also wird es gleich versoffen und am Tisch jammern sie, dass sie kein Geld für die Miete haben. Ganz oben und ganz unten will sich keiner mit den Ursachen beschäftigen. Die Wahrheit ist unerträglich.
Alan Moore, der mit seinen Werken sowohl im Mainstream als auch in der unabhängigen Szene Meilensteine gesetzt hat, legte hier sein Magnum Opus vor. Dabei rührte die nähere Auseinandersetzung zunächst - sehr banal - aus dem 100-jährigen „Jubiläum“ der Whitechapel-Morde. Fünf Prostituierte starben auf immer grausamere Art und Weise. Dann hörten die Morde plötzlich auf und der Täter ist bis heute nicht bekannt.
Die schrecklichen Taten bringen das ganze Land in Aufruhr und wirken bis heute nach. Moore setzte sich damit auseinander, warum das so ist. Auf seiner Suche lässt er alle zu Wort kommen, die etwas dazu sagen könnten. In erster Linie der Täter selbst, aber auch seine Opfer, die Leute, die das ganze in Rollen bringen und die Leute, die die Fälle aufklären wollen.
Dabei gibt es keine Helden, keine ganz und gar Unschuldigen. Die Prostituierten selbst setzen die Räder in Bewegung, die am Ende zu den unaussprechlichen Taten gegen sie führen. Allerdings nicht in dem Sinne, dass sie selbst schuld daran sind oder es gar verdient hätten. Der Auslöser - ein stümperhafter Erpressungsversuch - ist Resultat ihrer Lebensumstände. Es ergibt in ihrer Welt Sinn, so zu handeln. Die Oberschicht fühlt sich bedroht, schlägt zurück. Aber ist nicht die Oberschicht auch selbst schuld daran, dass es so eine Welt, so ein Viertel wie Whitechapel, gibt? Und ist sie somit nicht auch schuld daran, dass sie von dieser Welt nun selbst verfolgt werden, egal wie dick die Palastmauern sind? Die Zahnräder drehen sich, die Ursachen werden verdrängt.
Nicht einmal der fleißige und pflichtbewusste Hauptermittler Inspector Frederick Abberline ist hier ein neutraler Beobachter oder ein moralischer Ruhepol. Seine Verwicklung in die Geschichte lässt auch ihn am Ende in keinem guten Licht dastehen.
Kongenial wird dies von den Zeichnungen Eddie Campbells unterstützt. Die Tuschestriche sind dabei Ripper-artig zugleich sehr fein und sehr brutal. In einem reduzierten Stil sind die Figuren oft nicht einfach nur gezeichnet, vielmehr sind die Gesichter nur die weißen Stellen, die aus dem schwarzen Panel heraustreten. Die Figuren treten erzählerisch wie zeichnerisch aus der Dunkelheit hervor. Wir dürfen ein Blick auf sie erhaschen und kurz Teil ihres Schicksals sein, das nicht besonders außergewöhnlich ist - bis zu dem Punkt, an dem Jack The Ripper auf den Plan tritt.
Der Stil macht es vor allem zu Beginn dem Leser nicht besonders einfach, die Figuren immer genau unterscheiden zu können. Keine Farbe hilft uns, die vielen Namen erfordern ein aufmerksames Lesen, um alle richtig zuordnen zu können. Gleichzeitig werden reale Gebäude sehr genau wiedergegeben - die Bauwerke überdauern in ihrer Schönheit oder auch Monstrosität. Die Menschen sind nur flüchtige Striche, so schnell vergangen wie sie auf die Welt gekommen sind.
„From Hell“ entwickelt einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Wohlwissend, dass seine Version eine von vielen ist und im Grund nicht besser als die der anderen „Möwenjäger“, wie Alan Moore im Anhang eindrücklich ausführt, führt er uns eine Welt der Vergangenheit vor, die eben keine gute alte Zeit war. London als damals wichtigste Stadt der Erde ist Symbol für alle menschlichen Gesellschaften. Ein Mikrokosmos, dessen Wahnsinn und Schönheit Moore mit dem Wahnsinn und der Schönheit der menschlichen Seele verknüpft.
Mittendrin steht William Gull alias Jack The Ripper. Er ist Leibarzt der Königin, hat Zugang zu allen wichtigen Personen der Oberschicht und als Freimaurer Einsicht in viele Dinge, die anderen verborgen sind. Zugleich kennt er die Niederungen der Gesellschaft, kommt selbst aus kleinen Verhältnissen, beschäftigt sich mit Insassen der Klapsmühlen, die noch tiefer stehen als die Huren in Whitechapel. Sein Drang nach Erkenntnis lässt ihn alle Menschlichkeit ablegen, er benutzt London als Altar eines okkulten Rituals, um oberflächlich Geheimpolitik auszuführen.
Die Whitechapel-Morde beschäftigen uns immer noch. So tief sitzt das Grauen, dass wir es immer noch abschütteln wollen. Dafür braucht es eine Lösung. Aber die gibt es nicht. Die gibt es niemals für Mord wie Moore im Anhang erklärt. Das gelingt uns nicht, wenn wir sie nicht aufklären können, wenn wir nicht verstehen dürfen, was die Gründe für die Taten waren.
Alan Moore liefert uns eine mögliche Erklärung. Detailversessen, mit tiefen Einblicken in Psyche und Kultur, eigenem Verlangen und Zwängen der Gesellschaft. Der letzte Mord war der brutalste. Der Mörder hatte viel Zeit für sein Werk. Daher widmet auch Moore ein ganzes Kapitel nur der Tötung und Verstümmelung von Mary Kelly. Das schreckliche Bild der aufgeschlitzten und zerteilten Leiche diese jungen Frau ist als Polizeifoto erhalten. Wer es gesehen hat, vergisst es nie wieder. Genauso verfolgt einen dieses zur Hälfte dialoglose Kapitel noch lange nach dem Lesen.
Die Morde sind Fanal für das Ende eines Zeitalters und den Beginn eines neuen. Nicht umsonst gibt es an einer Stelle einen kurzen Abstecher nach Österreich. Die Empfängnis von Adolf Hitler wird eingebaut, da sie etwa zur gleichen Zeit wie die Morde stattgefunden haben muss.
„…das Zwanzigste Jahrhundert. Ich habe es entbunden.“ William Gull
Diese Version der Whitechapel-Morde ist so durchdacht und überzeugend dargestellt, dass man sie auch als die richtige der dutzenden Erklärungen und Theorien akzeptieren und es dabei belassen könnte. Der Schrecken der Taten wird aber noch weiterwirken. Denn mit ihnen wurden allen unserer tiefsten Ängste und Sorgen Gestalt gegeben.
Alan Moore und Eddie Campbell schaffen dies alles in „From Hell“ rüberzubringen. Nach dieser Lektüre kann keiner mehr behaupten, dass ein Comic nicht Weltliteratur sein kann.